Montag, 28. Juli 2014

4. April: Przemyśl

Am nächsten Morgen begeben wir uns nach dem Frühstück direkt zum Bahnhof, um die nächste Etappe unserer Reise in Angriff zu nehmen: Heute geht es nach Przemyśl. Die Stadt liegt im äußersten Osten Polens kurz vor der ukrainischen Grenze. Am Bahnhof kaufe ich mir an einem der zahlreichen Stände noch schnell ein Obwarzanek. Diese Brotringe zählen zu den traditionellen Symbolen Krakaus und sind dort an jeder Ecke zu haben. Ich entscheide mich für die Variante mit Käse und auch meine Begleiter nehmen sich eine Wegzehrung mit. Die ältere Dame, die die Obwarzanki verkauft, amüsiert sich sehr über die kleine Gruppe von Deutschen, die nach und nach jeder in bruchstückhaftem polnisch und unter lebhaftem Einsatz des Zeigefingers einen der Heferinge bestellt.
Für die 250 km lange Fahrt brauchen wir über 5 Stunden. Dass wir so viel Zeit benötigen, liegt vor allem daran, dass wir sehr oft - auch abseits von Bahnhöfen - halten und uns generell sehr gemächlich fortbewegen: Einer von uns misst mit seinem Handy-GPS eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 40 km/h. Schnellste Messung: 90 km/h, Schleichrekord: 25 km/h. Die nette Polin in unserem Abteil versichert uns derweil, dass das auf dieser Strecke ganz normal sei. Wir vertreiben uns die Zeit mit Essen, Lesen, Schlafen und einer Partie "Stadt, Land, Fluss". Besonders die Variante mit der Kategorie "Krankheit" sorgt für allgemeine Heiterkeit.
Als wir in den Randbezirken Przemyśls ankommen, fällt unser Blick zunächst auf graue Plattenbauten und einen Lidl. Auf unserem Weg zum Hostel gibt es dann schon mehr zu sehen: Wir kommen an einem Armeestützpunkt vorbei. Das Gelände ist gut einsehbar und wir erhaschen einen Blick auf die dort stationierten Soldaten und Panzer. Das Hostel selbst liegt in einer kleinen Seitenstraße. Als wir das erste Zimmer sehen, sind wir zunächst nicht besonders erfreut: In dem großen, kahlen Raum stehen fünf alte Doppelstockbetten im Kasernenstil und die mit robustem, rotem Sofastoff bezogenen Matratzen in den Metallgestellen sehen nicht besonders bequem aus. Zu unserer großen Erleichterung ist das Hostel aber nicht besonders ausgebucht und wir können uns schließlich auf vier Zimmer aufteilen, sodass wir den großen Saal nicht komplett füllen müssen. Auch beim Blick in die Duschräume mit ihren braunen Fliesen fühlen wir uns ein paar Jahrzehnte zurückversetzt, aber egal: es ist sauber und reicht völlig aus, um hier eine ruhige Nacht zu verbringen.

Gute Nacht! ;)

Nach dieser kurzen Inspektion halten wir uns nicht lange im Hostel auf, sondern ziehen gleich weiter in die Stadt. Auf dem Weg ins Stadtzentrum kommen wir an einem Denkmal vorbei, das den "Adlerjungen" von Przemyśl gewidmet ist. So werden die jüngsten polnischen Gefallenen genannt, die 1918 ihr Leben ließen, um die Stadt zu verteidigen. Damals, zum Ende des Ersten Weltkrieges, war der Nationalitätenkonflikt zwischen Polen und Ukrainern in Galizien zu einem Bürgerkrieg eskaliert. Auf beiden Seiten forderten die Kämpfe zahlreiche Opfer. Bei den Polen, die den Konflikt für sich entscheiden konnten, entstand bald ein wahrer Heldenkult um die im Kindesalter gefallenen Adlerjungen - ein Mythos, der half, den Graben zwischen den beiden Nationalitäten aufrechtzuerhalten und zu vertiefen.
Das Denkmal für die "Adlerjungen".

Das Ufer des San.

Nach diesem ersten Eintauchen in die Stadtgeschichte überqueren wir den Fluss San. Auf der Brücke stehend, betrachten wir nicht nur die Architektur Przemyśls zu beiden Seiten des Flusses, sondern auch die sanften Hügel des Karpatenvorlandes, die sich in der Ferne erheben.
Bald darauf erreichen wir den Marktplatz. Dieser ist von restaurierten Bürgerhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert umstanden. Am Platz befindet sich zudem ein Denkmal für Papst Johannes Paul II. Danach führt uns unser Weg hinauf zur Kasimirsburg. Sie wurde 1340 von dem polnischen König Kasimir dem Großen erbaut. Im Burghof kann man noch Mauerreste aus dieser Zeit sehen, die heutigen Gebäude sind jedoch geprägt durch einen Umbau im Renaissancestil aus dem 16. und 17. Jahrhundert.

Der Turm der Kasimirsburg.

Aussichten von der Burg: Richtung Stadt...
...und Richtung Karpatenvorland.

Obwohl wir langsam ordentlich Hunger haben, streifen wir weiter durch den Ort. Besonders faszinierend ist die Entdeckung, wie viele Kirchen diese Kleinstadt hat: In direkter Nachbarschaft finden sich hier eine römisch-katholische und eine griechisch-katholische Kathedrale sowie eine Franziskanerkirche. Auf der anderen Seite hinter dem Hauptmarkte gibt es unter anderem zwei ehemalige Dominikanerkloster und ein Karmelitinnenkloster. Diese Anhäufung religiöser Institutionen zeigt einerseits, welch hohen Stellenwert die Religion im alten Galizien hatte. Andererseits deutet das Nebeneinander unterschiedlicher Konfessionen auch die multiethnischen Konfliktfelder der Region an.

Religiöse Perspektiven auf die Stadt.


Nach einer deftigen Stärkung in einem kleinen Restaurant nahe des Rynek setzen wir unsere Stadterkundung fort und begeben uns nun auf die Spuren des jüdischen Przemyśls. Unser erstes Ziel dabei ist die 1918 eingeweihte Neue Synagoge, in der sich heute eine Bibliothek befindet. Sie liegt etwas außerhalb des Stadtkerns und so sehen wir auf unserem Weg auch Teile der Stadt, die nicht ganz so schick zurecht gemacht sind, wie die Umgebung des Marktes. Bald erreichen wir die Synagoge - ein auf alten Photos schmuckvoller Bau, der jedoch durch die pragmatischen Renovierungen in kommunistischer Zeit heute eher nüchtern wirkt.

Die alte Synagoge heute.
Auch hier: Die Zeugen der Habsburgerzeit.

Auf unserem Weg zum ehemaligen Ghetto passieren wir den in der Habsburgerzeit errichteten Bahnhof. Dahinter beginnt das Gebiet, in dem während der Naziherrschaft bis zu 22.000 Juden aus Przemyśl und Umgebung zusammengepfercht wurden. Besonders tragisch an der Geschichte der Przemyśler Juden ist der Umgang der beiden Besatzungsmächte mit ihnen: Ab 1939 verlief die Grenze zwischen den deutsch und sowjetisch besetzten Gebieten durch die Stadt. Zunächst flohen viele Juden in die vermeintlich sicherere sowjetische Stadthälfte, von wo aber im Frühjahr 1940 etwa 7000 von ihnen nach Asien deportiert wurden. Im selben Jahr zwangen die Nazis die noch auf der deutschen Seite lebenden Juden, in den sowjetisch besetzten Teil der Stadt zu ziehen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde schließlich das Ghetto errichtet, das jedoch nicht (wie etwa ursprünglich das Warschauer Ghetto) als längerfristiger Wohnort für die Juden gedacht war. Da die "Endlösung" bereits beschlossene Sache war, sollte es lediglich der Sammlung und Erfassung der Juden des Przemyśler Gebietes vor der Deportation dienen.

Der Bahnhof bei Tag...

...und bei Nacht.

Heute erhebt sich am Anfang des Gebietes, auf dem sich das Ghetto befand, ein Gefängnis und das Kerngebiet des ehemaligen Ghettos ist mit modernen Neubaublocks bebaut. Da die Stadt im Zweiten Weltkrieg stark zerstört wurde, stehen hier nur noch wenige alte Häuser. Die jedoch, die noch dort sind, erscheinen uns als besonders geschichtsträchtig. Fast ein bisschen gruselig sind diese größtenteils schäbigen architektonischen Zeitzeugen im Licht der Abenddämmerung. Eine Kommilitonin informiert uns an verschiedenen Stellen unseres Weges über den Umgang der Deutschen mit den Przemyśler Juden und die Zustände im Ghetto. Wir suchen ein Denkmal, dass es hier für die ermordeten Menschen geben soll, an der Stelle wo sich während der NS-Besatzung der Judenrat Przemyśls traf. In der zunehmenden Dunkelheit finden wir es aber nicht. Auf dem Rückweg kommen wir erneut am Gefängnis vorbei. Es kommt mir nun erst recht unheimlich vor und es erscheint mir geradezu symbolhaft, dass es sich ausgerechnet hier befindet.

Auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.




Um den Abend nicht allzu düster ausklingen zu lassen, beschließen wir, uns noch kurz in eine Bar zu setzen. Bei Glühwein und Bier finden wir zurück in eine gelöste, gemeinschaftliche Stimmung und verbringen einen sehr gemütlichen Abend.